533BENEDIKT XVI., GENERALAUDIENZ, Petersplatz Mittwoch, 6. April 2011

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Hl. Theresia von Lisieux

Liebe Brüder und Schwestern!

Heute möchte ich über die hl. Theresia von Lisieux, Theresia vom  Kinde Jesu und vom heiligen Antlitz, sprechen. Sie hat nur 24 Jahre in  dieser Welt gelebt, am Ende des 19. Jahrhunderts, und ein sehr  einfaches und verborgenes Leben geführt, ist aber nach ihrem Tod und  der Veröffentlichung ihrer Schriften zu einer der bekanntesten und  beliebtesten Heiligen geworden. Die »kleine Theresia« läßt nicht nach,  den einfachen Seelen, den Kleinen, den Armen und den Leidenden zu  helfen, die zu ihr beten, aber sie hat auch die ganze Kirche mit ihrer  tiefen geistlichen Lehre erleuchtet. Daher hat der ehrwürdige Diener  Gottes Papst Johannes Paul II. ihr 1997 den Titel der Kirchenlehrerin  verliehen, zusätzlich zu dem der Patronin der Missionen, den sie  bereits 1927 von Pius XI. erhalten hatte. Mein geliebter Vorgänger  bezeichnete sie als »Expertin der ›scientia amoris‹« (Novo millennio  ineunte, 42).  Diese »Wissenschaft«, die in der Liebe die ganze Wahrheit des  Glaubens erstrahlen sieht, faßt Theresia vor allem in ihrer  Lebensbeschreibung in Worte, die ein Jahr nach ihrem Tod unter dem  Titel Geschichte einer Seele veröffentlicht wurde. Dieses Buch war  sofort sehr erfolgreich, wurde in viele Sprachen übersetzt und in der  ganzen Welt verbreitet. Ich möchte euch einladen, diesen kleinen und  doch so großen Schatz wiederzuentdecken, diesen leuchtenden, in  ganzer Fülle gelebten Kommentar zum Evangelium! Die Geschichte  einer Seele ist in der Tat eine wunderbare Liebesgeschichte, die mit  einer solchen Wahrhaftigkeit, Einfachheit und Frische erzählt wird, daß  sie den Leser einfach faszinieren muß! Aber welche Liebe hat  Theresias ganzes Leben, von der Kindheit bis zum Tod, erfüllt? Liebe  Freunde, diese Liebe hat ein Antlitz, sie hat einen Namen: Jesus! Die  Heilige spricht unablässig von Jesus. Ich möchte also die großen  Abschnitte ihres Lebens nachvollziehen, um in das Herz ihrer Lehre  einzutreten. Theresia wird am 2. Januar 1873 in Alençon, einer Stadt in der  Normandie in Frankreich geboren. Sie ist die jüngste Tochter von Louis  und Zélie Martin, vorbildlichen Eheleuten und Eltern, die am 19.  Oktober 2008 gemeinsam seliggesprochen wurden. Sie hatten neun  Kinder; vier von ihnen starben bereits in zartem Alter. Übrig blieben  fünf Töchter, die alle Ordensfrauen wurden. Mit vier Jahren wurde  Theresia vom Tod ihrer Mutter zutiefst getroffen (Ms A, 13r; vgl.  Therese von Lisieux, Geschichte einer Seele und weitere  Selbstzeugnisse, gesammelt, übersetzt und eingeleitet von Otto Karrer,  München 1952, S. 34–36). Der Vater zog daraufhin mit den Töchtern in  die Stadt Lisieux, wo sich das ganze Leben der Heiligen abspielen wird.  Später wurde Theresia, die von einem schweren Nervenleiden befallen  wurde, durch eine göttliche Gnade geheilt, die sie selbst als das  »Lächeln der seligsten Jungfrau « bezeichnet (29v–30v; ebd. S. 61).  Dann empfing sie die Erstkommunion, die sie zutiefst erlebte (35r; vgl.  ebd., S.70–72), und stellte den eucharistischen Jesus in den  Mittelpunkt ihrer Existenz. Die »Weihnachtsgnade« von 1886 ist die  große Wende, die sie als »meine vollständige innere Wandlung«  bezeichnet (44v–45r; ebd., S. 85): Sie wird von ihrer kindlichen  Überempfindlichkeit geheilt und beginnt voranzuschreiten, »wie ein  Riese seinen Weg läuft«. Im Alter von 14 Jahren nähert sich Theresia immer mehr mit großem  Glauben dem gekreuzigten Jesus und nimmt sich des scheinbar  aussichtslosen Falles eines zum Tode verurteilten und unbußfertigen  Verbrechers an (45v–46v; ebd., S.88–89). »Um jeden Preis wollte ich die  Sünder dem ewigen Verderben entreißen«, schreibt die Heilige in der  Gewißheit, daß ihr Gebet ihn dem erlösenden Blut Christi zugeführt  hätte. Es ist ihre erste und grundlegende Erfahrung der geistlichen  Mutterschaft. »So sehr vertraue ich auf deine [Jesu] grenzenlose  Barmherzigkeit«, schreibt sie (ebd., S. 88). Wie die Gottesmutter Maria  liebt, glaubt und hofft die junge Theresia »mit dem Herzen einer  Mutter« (vgl. PR 6/10r).  Im November 1887 begibt sich Theresia zusammen mit ihrem Vater und  der Schwester Céline auf eine Pilgerreise nach Rom (55v–67r; vgl. ebd.,  S. 107–124). Der Höhepunkt ist für sie die Audienz bei Papst Leo XIII.,  den sie um Erlaubnis bittet, mit 15 Jahren in den Karmel von Lisieux  eintreten zu dürfen. Ein Jahr später wird ihr Wunsch Wirklichkeit: Sie  wird Karmelitin, »um Seelen zu retten und besonders für die Priester zu  beten« (69v; ebd., S. 130). Gleichzeitig beginnt auch die schmerzhafte  und demütigende Geisteskrankheit ihres Vaters. Dieser große Schmerz  bringt Theresia dazu, das Antlitz Jesu in seinem Leiden zu betrachten  (71rv; vgl. ebd., S. 133). So bringt sie durch ihren Ordensnamen –  Schwester Theresia vom Kinde Jesu und vom heiligen Antlitz – ihren  ganzen Lebensplan zum Ausdruck, vereint mit den zentralen  Geheimnissen der Menschwerdung und der Erlösung.  Ihre Ordensprofeß am Fest Mariä Geburt, dem 8. September 1890, ist  für sie eine wahre geistliche Vermählung in der »Kleinheit« nach dem  Evangelium, für die sie das Symbol der Blume gebraucht. Sie schreibt:  »Mariä Geburt, welch schönes Fest für die Vermählung mit Christus!  Das kleine Kind Maria brachte dem kleinen Jesus seine kleine Blume  dar« (77r; ebd., S. 145). Ordensfrau zu sein bedeutet für Theresia, Braut  Christi und Mutter der Seelen zu sein (vgl. Ms B, 2v). Am selben Tag  schreibt die Heilige ein Gebet, das die ganze Ausrichtung ihres Lebens  darlegt: Sie bittet Jesus um das Geschenk seiner grenzenlosen Liebe;  sie bittet darum, die Kleinste zu sein, und vor allem bittet sie um das  Heil aller Menschen: »Keine Seele soll heute in die Verdammnis  geraten« (Pr 2). Von großer Bedeutung ist ihre Weihe an die  barmherzige Liebe, die sie am Dreifaltigkeitssonntag des Jahres 1895  vornimmt (Ms A, 83v–84r; Pr 6; vgl. ebd., S. 160–161). An dieser Weihe  läßt Theresia, die bereits stellvertretende Novizenmeisterin ist, ihre  Mitschwestern sofort teilhaben. 1896, zehn Jahre nach der »Weihnachtsgnade«, kommt die  »Ostergnade«, die Theresias letzten Lebensabschnitt eröffnet: der  Beginn ihres Leidens in tiefer Vereinigung mit dem Leiden Jesu. Es ist  ein leibliches Leiden in Form der Krankheit, die sie durch große Leiden  zum Tod führen wird, vor allem aber ein Leiden der Seele in Form einer  äußerst schmerzlichen Glaubensprüfung (Ms C, 4v–7v). Mit Maria beim  Kreuz Jesu lebt Theresia damals einen heroischen Glauben, wie Licht  in der Finsternis, die in ihre Seele eindringt. Die Karmelitin ist sich  bewußt, daß sie diese große Prüfung für das Heil aller glaubenslosen  Menschen der modernen Welt lebt, die sie »Brüder« nennt. Daher lebt  sie die geschwisterliche Liebe noch intensiver (8r–33v; vgl. ebd., S.  169–190): zu den Schwestern ihrer Gemeinschaft, zu den Missionaren,  ihren geistlichen Brüdern, zu den Priestern und zu allen Menschen,  besonders den Fernstehenden. Sie wird wirklich zu einer »universalen  Schwester«! Ihre sanfte und lächelnde Liebe ist Ausdruck der tiefen  Freude, deren Geheimnis sie uns offenbart: »Jesus, dich zu lieben ist  meine Freude« (P 45/7). Mitten in diesem Leiden lebt die Heilige die  größte Liebe in den kleinsten Dingen des Alltags und erfüllt so ihre  Berufung, im Herzen der Kirche die Liebe zu sein (vgl. Ms B, 3v; vgl.  ebd., S. 232).  Theresia stirbt am Abend des 30. September 1897 mit den einfachen  Worten »Mein Gott, ich liebe Dich!«; ihr Blick ist auf das Kreuz  gerichtet, das sie in Händen hält. Diese letzten Worte der Heiligen sind  der Schlüssel zu ihrer ganzen Lehre, zu ihrer Auslegung des  Evangeliums. Die Liebesbekundung, die sie in ihrem letzten Atemzug  machte, war gleichsam der ständige Atem ihrer Seele, ihr Herzschlag.  Die einfachen Worte »Jesus, ich liebe dich« stehen im Mittelpunkt all  ihrer Schriften. Die Liebe zu Jesus nimmt sie in die allerheiligste  Dreifaltigkeit hinein. Sie schreibt: »Ach du weißt, daß ich dich liebe,  göttlicher Jesus, / Der Geist der Liebe entflammt mich mit seinem  Feuer, / In der Liebe zu dir ziehe ich den Vater an« (P 17/2).  Liebe Freunde, gemeinsam mit der hl. Theresia vom Kinde Jesu sollten  auch wir dem Herrn jeden Tag immer wieder sagen können, daß wir aus  der Liebe zu ihm und zu den anderen leben und in der Schule der  Heiligen lernen wollen, wahrhaft und vollkommen zu lieben. Theresia  ist eine der »Kleinen« des Evangeliums, die sich von Gott in die Tiefen  seines Geheimnisses führen lassen. Sie ist eine Führerin für alle,  besonders für jene, die im Gottesvolk den Dienst der Theologen  ausüben. Mit Demut und Liebe, Glauben und Hoffnung dringt Theresia  unablässig in das Herz der Heiligen Schrift vor, die das Geheimnis  Christi enthält. Und eine solche Lektüre der Bibel, von der  »Wissenschaft der Liebe« genährt, steht nicht im Gegensatz zur  akademischen Wissenschaft. Die »Wissenschaft der Heiligen«, von der  sie selbst am Ende der Geschichte einer Seele spricht, ist die höchste  Wissenschaft. »Alle Heiligen haben dies begriffen, vielleicht am besten  solche, die die Welt mit der Predigt des Evangeliums erhellten. Der  heilige Paulus, Augustinus, Thomas von Aquin, Johannes vom Kreuz,  die heilige Theresia und so viele Gottesfreunde – schöpften sie nicht  aus dem Gebete ihre ganze erhabene Weisheit, das Entzücken der  größten Geister?« (Ms C, 36r; ebd., S. 220–221). Die Eucharistie, vom  Evangelium untrennbar, ist für Theresia das Sakrament der göttlichen  Liebe, die sich bis zum Äußersten erniedrigt, um uns zu Gott zu  erheben. In ihrem letzten Brief schreibt die Heilige über ein Bild, auf  dem das Jesuskind in der geweihten Hostie dargestellt ist, diese  einfachen Worte: »Ich kann einen Gott, der für mich so klein geworden  ist, nicht fürchten! (.…) Ich liebe ihn! Denn er ist nichts als Liebe und  Barmherzigkeit!« (LT 266). Im Evangelium entdeckt Theresia vor allem die Barmherzigkeit Jesu.  Sie sagt sogar: »Er hat mir seine unendliche Barmherzigkeit  geschenkt; durch sie betrachte und verehre ich die anderen göttlichen  Vollkommenheiten! (…) Dann erscheinen mir alle strahlend vor Liebe,  und selbst die Gerechtigkeit – vielleicht noch mehr als jede andere –  scheint mir mit Liebe bekleidet (Ms A, 84r). So drückt sie sich auch am  Ende der Geschichte einer Seele aus: »Ich brauche nur das heilige  Evangelium aufzuschlagen, da weht mir der Duft des Lebens Jesu  entgegen, und ich weiß, wohin ich mich wenden soll. Nicht auf den  ersten Platz stürze ich mich – zum untersten eile ich. … Selbst wenn  ich alle möglichen Verbrechen auf dem Gewissen hätte, ich glaube,  mein Vertrauen wäre doch nicht geringer: mit einem vom Schmerz der  Reue gebrochenen Herzen eilte ich in die Arme meines Erlösers. Ich  weiß, er liebte den verlorenen Sohn« (Ms C, 36v–37r; ebd., S. 221–222).  »Vertrauen und Liebe« sind also der Schlußpunkt ihrer  Lebensbeschreibung, zwei Worte, die ihren ganzen Weg der Heiligkeit  wie Leuchtfeuer erhellt haben, um andere auf demselben »kleinen Weg  des Vertrauens und der Liebe«, der geistlichen Kindschaft zu leiten  (vgl. Ms C, 2v–3r; LT 226): ein Vertrauen wie das eines Kindes, das sich  in die Hände Gottes fallen läßt. Dieses Vertrauen ist nicht zu trennen  vom starken, radikalen Einsatz der wahren Liebe, der immerwährenden  Selbsthingabe, wie die Heilige mit Blick auf Maria sagt: »Zu lieben  heißt, alles hinzuschenken, sich selbst hinzuschenken« (Warum ich  dich liebe, o Maria, P 54/22). So zeigt Theresia uns allen, daß das  christliche Leben darin besteht, die Taufgnade durch die völlige  Selbsthingabe an die Liebe des Vaters in Fülle zu leben, um wie  Christus im Feuer des Heiligen Geistes seine Liebe zu allen Menschen  zu leben.  © Copyright 2011 - Libreria Editrice Vaticana

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Theresia von Lisieux

DER DRITTE ORDEN DES KARMEL TOCarm - johannes soreth

Mein Gott lebt, und ich stehe vor SEINEM Angesicht